Experten sehen Arbeitszeiterfassung für Lehrer als notwendig an
Angesichts des zunehmenden Aufgabenumfangs für Lehrkräfte und der aktuellen Rechtslage empfehlen Experten im Rahmen einer Analyse die Einführung von Arbeitszeiterfassung für Lehrer. Diese solle allerdings schrittweise und behutsam erfolgen.
Der Arbeitsalltag vieler Lehrkräfte ist geprägt von einer großen Menge von Aufgaben, die über das reine Unterrichten hinausgehen. Neben Elternsprechstunden, Konferenzen und Klassenfahrten müssen auch die Unterrichtsstunden vorbereitet, Klausuren korrigiert und Weiterbildungen besucht werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer leisten daher deutlich mehr Stunden, als sie dies vertraglich müssten – oder als sie dies aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen dürften.
In einer Analyse der gewerkschaftsnahen Friedrich-Ebert-Stiftung haben nun zwei Experten, Frank Mußmann und Mark Rackles, die aktuelle Situation von Lehrkräften untersucht und kommen zum Ergebnis, dass Arbeitszeiterfassung für diesen Berufsstand notwendig ist. Dafür sprechen verschiedene Gründe.
Gründe für die Notwendigkeit der Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte
Der Arbeitsalltag vieler Lehrkräfte ist nach der Analyse von verschiedenen Phänomenen geprägt, die klar für eine Arbeitszeiterfassung sprechen:
- Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer arbeitet seit Jahrzehnten länger, als dies gemäß Arbeitszeitrecht und tariflicher Vorgaben zulässig wäre. Das gilt sowohl für die Wochen- als auch für die Jahresarbeitszeit. Besonders belastete Lehrkräfte arbeiten regelmäßig länger als 48 Stunden pro Woche.
- Insbesondere Teilzeitkräfte sind davon betroffen.
- Für die pädagogischen Kernaufgaben der Lehrerinnen und Lehrer steht immer weniger Zeit zur Verfügung, weil außerunterrichtliche Tätigkeiten zunehmen.
- Das alles führt zu einem veränderten Belastungserleben der Lehrer und erhöhten Gesundheitsrisiken.
Zu einem erhöhten Aufwand für Lehrkräfte führen zum Beispiel die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006, die Folgen von PISA 2001 mit einem Fokus auf Mindeststandards, die Herausforderungen, die sich aus der Zuwanderung ergeben sowie die weitere Aufgaben in Verbindung mit der Digitalisierung.
Das Tätigkeitsspektrum von Lehrkräften ist sehr heterogen. Je nach Umfeld und Bundesland gibt es unterschiedliche Kategorien der Aufgaben. So hat zum Beispiel die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2020 nur sechs allgemeine Tätigkeiten beschrieben: Lernen, Erziehen, Beurteilen, Fortbilden, Beteiligung an Schulentwicklung und Unterstützung der internen und externen Evaluation.
In Hamburg gibt es nur drei definierte Aufgabenbereiche von Lehrkräften. Dabei haben unterrichtsbezogene Aufgaben mit 75 Prozent den größten Anteil. Funktionsaufgaben fließen zu 15 Prozent ein, allgemeine Aufgaben zu 10 Prozent.
Bei der Tarifeinigung von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit der AWO Thüringen wurde dagegen eine umfangreiche Liste mit zwölf Kategorien mit über 90 Tätigkeiten definiert.
All das zeigt nach Auffassung der Autoren der Analyse, dass das bisherige Deputatsmodell für Lehrer, welches lediglich Pflicht-Unterrichtsstunden festlegt, dem zunehmenden Bedarf an Flexibilisierung nicht gerecht wird.
Rechtslage und Gerichtsurteile
Aus arbeitsrechtlicher Sicht ergibt sich ein recht klares Bild: Demnach müssten Lehrerinnen und Lehrer eigentlich heute schon ihre Arbeitszeit erfassen. Das ergibt sich aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (1 ABR 22/21) aus dem Jahr 2022. Grundlage ist das Arbeitsschutzgesetz, das auch für Beamtinnen und Beamte und damit auch für Lehrer gilt.
Doch schon vor diesem Urteil gab es Gerichtsentscheidungen, aus denen sich die Notwendigkeit von Arbeitszeiterfassung für Lehrer ableiten lässt. So lehnte zum Beispiel das OVG Lüneburg im Jahr 2015 eine Erhöhung der Pflichtstunden für Lehrkräfte ab, weil dazu eine zumindest ungefähre Kenntnis und Bewertung der Arbeitszeiten außerhalb des Unterrichts notwendig wäre. Nach Auffassung des Gerichts muss der Dienstherr (das Land) seinen Ermessensspielraum bei der Festlegung von Pflichtstunden auf eine nachvollziehbare Grundlage stellen.
Nicht zu vergessen ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019. Mit dem EuGH-Urteil wurde erstmals klargestellt, dass die Einhaltung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Einrichtung eines Systems erfordert, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen wird. Ein solches System muss nach Auffassung des EuGH verlässlich, objektiv und zugänglich sein.
Anders als das Urteil des EuGH löst das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2022 nach Auffassung von Experten einen unmittelbaren Handlungsdruck auf die Arbeitgeber aus und wirkt auch schon vor einer Neuregelung durch das Parlament faktisch wie ein Gesetz.
Die Position der Bundesregierung zur Arbeitszeiterfassung für Lehrer
Das Bundesarbeitsministerium hat sich zur Frage einer möglichen Arbeitszeiterfassung für Lehrerinnen und Lehrer klar positioniert. Dazu gehören die folgenden Punkte:
- Die Bundesländer müssen ein System einführen und nutzen, mit dem die geleistete Arbeitszeit vollständig erfasst werden kann. Das schließt auch alle Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts ein.
- Diese Verpflichtung gilt aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes, auf das sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil von 2019 bezieht, bereits heute. Das Arbeitsschutzgesetz und der europäische Arbeitnehmerbegriff beziehen Beamtinnen und Beamte mit ein.
- Die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes ist keine Voraussetzung für die Einführung der Arbeitszeiterfassung und dient lediglich dem Schaffen von Rechtsklarheit für die Arbeitgeber.
Dem steht nach Meinung des Bundesarbeitsministeriums auch nicht der Umstand entgegen, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit bei Lehrkräften nicht in jedem Fall im Voraus feststeht.
Der Forderung nach einer Ausnahme von der Zeiterfassung für Lehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter hatte das Bundesarbeitsministerium eine Absage erteilt.
Verschiedene Initiativen sollen Arbeitszeiterfassung für Lehrer bringen
Während die Kultusministerien der Länder sich noch gegen die Arbeitszeiterfassung ihrer Lehrkräfte wehren, gibt es auf Arbeitnehmerseite schon zahlreiche Initiativen, die den Prozess beschleunigen sollen. So hat zum Beispiel der Philologenverband Baden-Württemberg im Januar 2024 zwei Klagen von Lehrern auf den Weg gebracht, in denen die Einführung der Zeiterfassung verlangt wird. Die beiden Lehrkräfte hatten ihre Arbeitszeiten aufgezeichnet und damit überlange Arbeitszeiten belegt, die gegen den Arbeitsschutz verstoßen.
In Hessen hat erst kürzlich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Forderungen nach Zeiterfassung für Lehrkräfte erneuert. Im öffentlichen Dienst gebe es bereits Zeiterfassung, nicht aber bei Lehrerinnen und Lehrern.
- Arbeitszeiten erfassen
- Dokumentationspflicht einhalten
- Arbeitszeitkonten digital verwalten
- Zeiten auswerten und exportieren
Abschließende Empfehlungen
Die Experten kommen in ihrer Analyse zum abschließenden Ergebnis, dass eine vollständige Arbeitszeiterfassung bei Lehrkräften notwendig und sinnvoll sei. Das belegen alleine viele empirische Studien, die über viele Jahre hinweg durchgeführt wurden.
Allerdings gebe es Unsicherheiten sowohl auf der Seite der Arbeitgeber als auch der Beschäftigten. Immerhin ergäben sich durch eine vollständige Arbeitszeiterfassung sowohl organisatorische, materielle als auch kulturelle Eingriffe. Scheinbar kleine Veränderungen könnten sich deutlich auf die individuelle Arbeitsorganisation, die Organisation des Unterrichts, die Zusammenarbeit sowie die Aufgabenverteilung und die Versorgung mit Ressourcen auswirken.
Aus diesem Grund empfehlen die Autoren ein schrittweises Vorgehen. Dabei könne man in der Praxis im Rahmen von Pilotprojekten Erfahrungen gewinnen und Vertrauen bei den Beteiligten aufbauen.