Zusammenfassung
- In Deutschland stehen die Wünsche nach kürzeren Arbeitszeiten sowie Forderungen nach mehr Arbeit miteinander im Widerspruch.
- Dabei stellt sich die Frage, ob es möglich ist, den Wohlstand zu halten, wenn weniger gearbeitet wird.
- Die Politik will Anreize für längere Arbeitszeiten und für einen Wechsel von Teilzeit in Vollzeit setzen.
- Auch Überstunden sollen attraktiver werden.
- Ob kürzer oder länger gearbeitet werden soll, ist vor allem ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess.
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Inhalt
Das Arbeitszeitdilemma in Deutschland
Deutschland steckt in einem Arbeitszeitdilemma: Einerseits werden Rufe nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit immer lauter. Prominent diskutiert werden Modelle wie die Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich oder sogar noch weitergehende Ansätze mit nur noch wenigen Stunden Arbeit pro Woche. Andererseits fordern Wirtschaftsvertreter angesichts von Fachkräftemangel und schwächelndem Wachstum genau das Gegenteil: längere Arbeitszeiten, etwa durch die Streichung von Feiertagen oder Kürzungen bei Urlaubstagen, um die Produktivität zu steigern und die Wirtschaftsleistung zu sichern. Diese gegensätzlichen Ansätze prägen eine kontroverse Debatte über die Zukunft der Arbeit in Deutschland.
Kontroverse Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung
Befürworter kürzerer Arbeitszeiten verweisen auf Vorteile für Gesundheit, Familienleben und Motivation der Beschäftigten. Die Vier-Tage-Woche steht dabei im Zentrum vieler Diskussionen. Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der Vollzeitbeschäftigten in Deutschland sich eine Viertagewoche wünscht – in einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gaben dies rund 81 Prozent der Befragten an. Besonders attraktiv erscheint das Modell, wenn es ohne Gehaltsverlust umsetzbar ist, was jedoch aus Unternehmenssicht schwierig ist.
Immerhin deuten Pilotprojekte darauf hin, dass eine reduzierte Arbeitszeit nicht zwingend zulasten der Produktivität gehen muss. In einem Pilotversuch mit 45 Unternehmen in Deutschland blieben die Produktivitätseinbußen offenbar aus, während Zufriedenheit und Work-Life-Balance der Mitarbeitenden zunahmen. Ähnliche Erfahrungen aus anderen Ländern, etwa großangelegte Tests in Großbritannien oder Spanien, untermauern diese Beobachtung. Befürworter argumentieren, ausgeruhtere Mitarbeiter seien effizienter und seltener krank, sodass weniger Arbeitszeit durch höhere Arbeitszufriedenheit teilweise kompensiert werden könnte.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine höhere Produktivität nicht automatisch zu einem Ausgleich des Outputs durch kürzere Arbeitszeiten führt. Wenn zum Beispiel die Arbeitszeit durch eine Vier-Tage-Woche um 25 Prozent sinkt, dann müsste die Produktivität um 25 Prozent steigen, damit die erzeugte Leistung konstant bleibt. Solche Steigerungen dürften nur in wenigen Unternehmen erreichbar sein.
Auch die Gewerkschaften treiben das Thema voran. So zog die IG Metall in Betracht, in Tarifverhandlungen – etwa 2023 in der Stahlindustrie – eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich zu fordern. Ihr damaliger Vorsitzender Jörg Hofmann sah darin sogar einen möglichen Lösungsweg gegen Personalknappheit: Eine Verkürzung auf z. B. 32 Stunden pro Woche könnte bislang teilzeitbeschäftigte Menschen motivieren, ihre Stundenzahl aufzustocken. Tatsächlich arbeiten in Deutschland Millionen von Beschäftigten in Teilzeit – 2023 lag die Teilzeitquote über alle Erwerbstätigen hinweg bei etwa 39 Prozent. Viele davon, vor allem Frauen, reduzieren ihre Stunden aus familiären Gründen.
Die SPD-Co-Parteivorsitzende Saskia Esken unterstützt diese Sicht und verweist auf Studien, „wonach Menschen in einer auf vier Arbeitstage reduzierten Woche effektiver arbeiten, weil sie eine höhere Arbeitszufriedenheit haben“. Auch DGB-Chefin Yasmin Fahimi betont immer wieder, dass angesichts verdichteter Arbeit längere Erholungsphasen nötig seien – wobei sie einschränkt, dass eine Vier-Tage-Woche keine universelle Lösung für alle Branchen darstelle.
Forderungen nach längerer Arbeitszeit und Feiertagsdebatte
Parallel zu diesen Forderungen nach weniger Arbeit mehren sich Stimmen, die genau das Gegenteil verlangen: längere Arbeitszeiten zur Stärkung von Wirtschaft und Staatshaushalt. Angesichts einer drohenden Wachstumsschwäche und Staatsausgaben in Rekordhöhe bringen einige Ökonomen und Wirtschaftsverbände eine Ausweitung der Arbeitszeit ins Spiel.
Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt der Vorstoß der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer, einen bundesweiten Feiertag abzuschaffen, um einen zusätzlichen Arbeitstag pro Jahr zu gewinnen. Berechnungen zufolge könnte ein einziger zusätzlicher Arbeitstag das Bruttoinlandsprodukt um acht bis elf Milliarden Euro erhöhen – eine Summe, die dem Staat angesichts knapper Kassen zusätzliche Steuereinnahmen bescheren würde.
Bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) stieß Schnitzer damit auf offene Ohren: „Ein Tag, acht Milliarden Euro, da muss man lange für stricken – solche Signale sind überfällig“, erklärte etwa der IHK-Hauptgeschäftsführer in Leipzig zustimmend. Auch Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts, hält eine Feiertagsstreichung angesichts riesiger Investitionspläne (etwa für Infrastruktur und Verteidigung) für vertretbar. Mehr Geld allein baue noch keine Straße, so Fuest – dafür brauche es real geleistete Arbeit. Seine Schlussfolgerung: „Wenn wir mehr Infrastruktur wollen, wenn wir mehr Rüstungsgüter wollen, dann müssen wir mehr arbeiten”.
Wirtschaftsverbände wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und die Arbeitgeberverbände argumentieren ähnlich. DIHK-Präsident Peter Adrian fordert vor allem Teilzeitbeschäftigte auf, ihre Wochenstunden nach Möglichkeit zu erhöhen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Als Hebel sieht er eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie – zum Beispiel durch mehr Kitaplätze – damit Eltern eher in Vollzeit arbeiten können. Adrian verweist darauf, dass in anderen Ländern deutlich mehr gearbeitet wird: In der Schweiz leistet eine Vollzeitarbeitskraft pro Jahr rund 230 Stunden mehr als in Deutschland, was sich für die Beschäftigten dort in höherem Einkommen und Wohlstand niederschlage. Hierzulande dagegen sinkt die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigem seit Jahren und liegt in Europa auf dem letzten Platz, auch weil mehr Menschen in Teilzeit tätig sind, während gleichzeitig die Gesamtzahl der Erwerbstätigen ein Rekordniveau erreicht. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger warnt deshalb davor, sich angesichts der historisch hohen Beschäftigtenzahl in falscher Sicherheit zu wiegen – schließlich stehe dieser ein „kontinuierliches Minus bei den durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden“ gegenüber. Entsprechend drastisch fällt die Kritik aus Industrie und Wirtschaft an der Vier-Tage-Woche aus: Weniger Arbeit bei vollem Lohn sei eine „Milchmädchenrechnung“, so BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Der Vorstandschef von Mercedes-Benz, Ola Källenius, warnte, Deutschland werde „international kein Spiel mehr gewinnen“, wenn hierzulande an erster Stelle stehe, bei vollem Gehalt weniger zu arbeiten.
Auch die Politik ist gespalten. Aus der Opposition forderte zuletzt etwa CDU-Politiker Hermann Gröhe, man dürfe die Wettbewerbsfähigkeit nicht durch kollektive Arbeitszeitverkürzung gefährden. Die FDP lehnt eine staatlich verordnete Vier-Tage-Woche ebenfalls ab und plädiert stattdessen für flexible Arbeitszeiten und Anreize, Überstunden zu leisten. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gab sich in der Debatte zurückhaltend, verteidigte aber ausdrücklich die Leistung der Beschäftigten: Deutschland habe „die höchste Zahl an Erwerbstätigen in der Geschichte der Bundesrepublik“ und allein im letzten Jahr wurden laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rund 1,3 Milliarden Überstunden geleistet. Wer behaupte, die Deutschen seien faul, habe daher „nicht mehr alle Latten am Zaun“, so Scholz – es gebe viele triftige Gründe, warum Menschen kürzer träten, etwa mangelhafte Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen.
Der geschäftsführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) lehnt eine flächendeckende Viertagewoche ebenfalls ab, hält sie aber in einzelnen Unternehmen für ein sinnvolles Modell, um Fachkräfte zu gewinnen. Sein Rezept gegen unfreiwillige Teilzeit ist vor allem der Ausbau der Kinderbetreuung, damit etwa Frauen, die derzeit mangels Betreuungsangeboten Stunden reduzieren müssen, wieder mehr arbeiten können.
Die künftige Regierungskoalition aus Union und SPD hat in ihrem Koalitionsvertrag verschiedene Anreize für die Ausweitung der Arbeitszeiten gesetzt. So sollen zum Beispiel Zuschläge für Überstunden steuerfrei sein. Auch der Wechsel von Teilzeit nach Vollzeit soll gefördert werden. Dazu gehört, dass Prämien, die Arbeitgeber ihren Mitarbeiter für einen solchen Wechsel gewähren, steuerlich gefördert werden sollen.
Teilzeitboom, Generation Erbe und neue Werte
Ein wichtiger Faktor in der Debatte ist die seit Jahren hohe Teilzeitquote in Deutschland. Viele Menschen – vor allem Frauen, aber zunehmend auch Männer – reduzieren freiwillig ihre Arbeitszeit, um Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren. Mittlerweile arbeitet fast jeder dritte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Teilzeit. Dahinter stehen oft persönliche Lebensmodelle: Eltern wollen Zeit für die Kinder, andere engagieren sich ehrenamtlich oder möchten einfach mehr Freizeit.
Gleichzeitig beobachten Sozialforscher einen Wertewandel bei jüngeren Generationen. Schlagworte wie Work-Life-Balance und Quiet Quitting (Dienst nach Vorschrift) machen die Runde. Zwar zeigen Statistiken, dass die Erwerbsbeteiligung der 20- bis 24-Jährigen zuletzt sogar gestiegen ist, doch viele Junge legen weniger Wert auf Karriere und verzichten bewusst auf Einkommen, wenn dadurch Freizeit gewonnen wird.
Hinzu kommt das Phänomen der Generation Erbe: Dank der großen Vermögensübergaben von der Elterngeneration verfügen manche junge Menschen über finanziellen Rückhalt und können sich erlauben, beruflich kürzerzutreten. In einer Umfrage gab fast jeder fünfte junge Erwachsene an, fest mit einer späteren Erbschaft zu rechnen. Das eigene Einkommen tritt relativ gesehen hinter geerbtes Vermögen zurück. Wer beispielsweise eine Wohnung oder Geld erbt, ist weniger darauf angewiesen, durch lange Arbeitswochen den Lebensunterhalt zu sichern.
Allerdings darf dieses Phänomen nicht überzeichnet werden: Die Mehrheit der jungen Menschen muss weiterhin ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und kann sich Teilzeitarbeit auf Kosten des Erbes nicht leisten. Dennoch wirft die Tendenz Fragen auf, wie viele Individualisten sich den Luxus reduzierter Erwerbsarbeit erlauben können, bevor es gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fällt.
Volkswirtschaftliche Folgen und Lösungsansätze
Die entscheidende Frage bleibt, welche Konsequenzen eine breite Veränderung der Arbeitszeit für die Volkswirtschaft hätte. Experten sind sich einig, dass weniger gearbeitete Stunden insgesamt auch weniger Wertschöpfung bedeuten – eine Volkswirtschaft, die weniger arbeitet, wird auch weniger erwirtschaften. Ifo-Chef Fuest gibt zu bedenken, dass bei sinkender Erwerbsarbeitszeit nicht nur weniger produziert wird, sondern auch Steuereinnahmen und Sozialabgaben zurückgehen. Angesichts einer alternden Gesellschaft könnte ein reduziertes Arbeitsvolumen die Finanzierung von Renten, Pflege und Gesundheit weiter erschweren.
Zudem warnen Industrievertreter vor einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, sollte Deutschland die Wochenarbeitszeit deutlich senken, während andere Volkswirtschaften das nicht tun. Mit anderen Worten: Wohlstand und materieller Lebensstandard hängen langfristig davon ab, dass genug gearbeitet wird, um ausreichendes Einkommen und Wachstum zu generieren.
Allerdings besteht auch Einigkeit darüber, dass starre Lösungen wenig hilfreich sind. Ein pauschaler Zwang zu Mehrarbeit würde ebenso auf Widerstand stoßen wie eine verordnete Arbeitszeitverkürzung über alle Branchen hinweg. Vielmehr plädieren Arbeitsmarktexperten für flexible Modelle, die sowohl den Bedürfnissen der Beschäftigten als auch den Erfordernissen der Wirtschaft gerecht werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Freiwilligkeit: Wer kürzer arbeiten möchte und es sich leisten kann, sollte dies tun dürfen – muss aber Abstriche beim Gehalt akzeptieren, wie Fuest betont. Im Umkehrschluss sollten diejenigen, die mehr arbeiten wollen, nicht durch unnötige Hürden ausgebremst werden. Hier setzen Vorschläge an, Überstunden steuerlich zu begünstigen oder Teilzeit-Fallen im Sozialsystem zu beseitigen, damit ein höherer Verdienst sich auch netto lohnt. Auch der Abbau von strukturellen Hindernissen – allen voran die Verbesserung der Kinderbetreuung – wird als Schlüssel gesehen, um versteckte Arbeitskraftreserven zu mobilisieren. Schließlich sind noch Millionen Arbeitsstunden ungenutzt, weil qualifizierte Kräfte wegen fehlender Betreuung oder Pflegeverpflichtungen nicht Vollzeit arbeiten können.
Ein weiterer Ansatz ist der produktive Ausgleich: Wenn die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf sinkt, muss die Wirtschaft versuchen, dies durch höhere Produktivität pro Stunde zu kompensieren. Technologischer Fortschritt, Automatisierung und Fortbildung könnten dazu beitragen, dass auch mit weniger menschlicher Arbeitszeit genügend Output erzielt wird. Wie beschrieben sind diesem Ansatz allerdings natürliche Grenzen gesetzt.
Letztlich spiegelt das Arbeitszeitdilemma einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess wider: Wie viel materielle Wohlstandseinbuße ist man bereit zugunsten von mehr Freizeit und Lebensqualität hinzunehmen – und wo liegen die Grenzen dessen, was die Gesamtwirtschaft verkraften kann? Manche schlagen offen vor, bewusst auf etwas Wachstum zu verzichten, wenn im Gegenzug das Leben entschleunigt und sozial nachhaltiger wird. In individuellen Lebensentwürfen mag dieser Tausch – weniger Geld für mehr Zeit – bereits funktionieren. Doch in der Breite muss eine Balance gefunden werden, damit individuelle Freiheiten und gesamtwirtschaftliche Notwendigkeiten im Einklang bleiben. Eine allgemeingültige Lösung gibt es noch nicht, doch die Diskussion ist in vollem Gange.
Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sagte dazu in der Sendung “Markus Lanz”: Es gehe um einen Aushandlungsprozess. Man könne sich auch bewusst dafür entscheiden, auf Wohlstand zu verzichten, um dafür weniger zu arbeiten. Man dürfe nur nicht so tun, als könne man den bestehenden Wohlstand mit weniger Arbeit halten.
Klar ist: Die Arbeitszeitdebatte wird Deutschland weiter beschäftigen, denn sie berührt Kernfragen von Wohlstand, Gerechtigkeit und Lebensqualität in einer sich wandelnden Arbeitswelt.